SchreibLernKONZEPT – 1. Bewegungswissenschaften
Impulse aus den Bewegungswissenschaften
Motorisches Lernen
Bis ein Kind aufrecht gehen und laufen kann, ist es im wahrsten Sinne des Wortes wackelig. Jedes Kind probiert und variiert so lange, bis es klappt, und erwirbt dabei ein großes Bewegungsgefühl und Bewegungsrepertoire. Dabei werden viele Fehlversuche erfolgreich überwunden und das Optimum der Bewegungsausführung von selbst gefunden. Jedes Kind durchläuft diese Phase unterschiedlich schnell und sehr individuell. Niemand käme auf die Idee, dem Kind eine methodische Abfolge zielgerichteter Teilbewegungen zum Gehenlernen vorzuschreiben – auch kein traditioneller Lernansatz tut dies. Der Weg zum Gehenlernen steht prototypisch für einen Lernansatz aus der Trainings- und Bewegungswissenschaft – das differenzielle Lernen. Es ist bewegungswissenschaftlich in zahlreichen Studien belegt, im Breiten- und Profisport erfolgreich umgesetzt und mit dem Namen W. Schöllhorn, Professor für Trainings- und Bewegungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, verbunden.
Was bedeutet das für den Erwerb der Schreibmotorik?
Sowohl der traditionelle als auch der differenzielle Lernansatz gehen davon aus, dass eine Bewegung nicht zu 100% exakt wiederholbar ist. Eine Bewegungswiederholung besteht immer aus identischen und aus neuen Anteilen der angestrebten Zielbewegung. Das gilt für alle motorischen Lernprozesse, z.B. für den Torschuss beim Fußball ebenso wie für das Erlernen von schreibmotorischen Bewegungsabläufen auf dem Weg zur individuellen Handschrift.
Traditionelles Lernen
… sieht die IDENTISCHEN Anteile einer Bewegung als Ursache des Lernens an. Das Kind soll die angestrebte ideale Zielbewegung so schnell wie möglich ausführen und durch häufige Wiederholung erlernen. Jede Abweichung von der idealen Bewegung wird als Fehler im Lernprozess gesehen und von außen, durch Lehrer:Innen oder Eltern, korrigiert. Die Motivation sinkt häufig und der Lernerfolg bleibt aus.
Differenzielles Lernen
… geht dagegen davon aus, dass es die Abweichungen oder Ungenauigkeiten, also die NEUEN Anteile einer Bewegung sind, mit denen die angestrebte Zielbewegung erlernt wird. Je mehr diese NEUEN Anteile variiert werden, desto erfolgreicher ist das motorische Lernen. Trainingsziele werden schneller, nachhaltiger und motivierter erreicht. Bei Wiederholungen eng am Ideal kommen diese Anteile zu kurz.
Lernen durch Variation
Schreibenlernen erfolgt nicht mit einer IDEALTECHNIK, sondern durch VARIATIONEN im Lernangebot.
VaRiiErT wird z.B. durch verschiedene Stifte, Pinsel, Papiersorten, mal liegend, mal stehend, mal klebt das Papier unter der Tischplatte oder an der Seitentafel. Spurbewegungen und kinematische Abläufe werden in der Geschwindigkeit, mit wechselnden Druckstärken und veränderten Größen variiert. Das Training erfolgt mit verdeckter oder assoziativer Spurführung, d.h. die Stiftspuren erfolgen ohne visuelle Kontrolle oder nur aus der Bewegungsvorstellung heraus. Störfaktoren werden bewusst in das Training eingebaut und Abweichungen von der idealen Buchstabenform sind gewollt. Der „Fehler“ aktiviert das Bewegungslernen und der Spaß garantiert den Erfolg.
Die Erkenntnisse des differenziellen Lernansatzes sind eindeutig:
- Häufige Wiederholungen und permanente Bewegungskorrekturen sind nicht entscheidend für das Erreichen einer motorischen Fertigkeit.
- Ein Bewegungsangebot mit vielfältigen Bewegungsvariationen ist entscheidend für den Lernerfolg.
- Die erzielten Lernzuwächse sind mindestens gleichwertig, in der Regel deutlich besser.
- Im Gegensatz zum bisherigen Verständnis des Bewegungslernens befinden sich die Schüler beim differenziellen Lernen durch das Suchen und Experimentieren bereits mitten im Lernprozess, so dass die Unterrichtszeit noch effektiver genutzt wird.
- Die erworbene Leistung sinkt in der Behaltensphase nicht ab, sondern steigt im Laufe der Zeit sogar weiter an, Lernerfolge stellen sich durch differenzielles Lernen schneller ein. Dieses Phänomen konnte auch in einem Kleinversuch mit einer ersten Jahrgangsstufe bestätigt werden.
Die Konzeption des SchreibenLernens muss sich neu ausrichten. Nicht die korrekte Ausführungsform, sondern „Fehler“ aktivieren das Bewegungslernen, und der Spaß garantiert Motivation und den Erfolg.
Dieser innovative Ansatz des Lernens ist für alle Lehrerinnen und Lehrer spannend und für die Kinder motivierend. Ein motorisch orientierter Schreibunterricht kann inspirieren, unentdeckte Möglichkeiten eröffnen, das Interesse am Schreiben wecken und andere durch das eigene Tun inspirieren.