SchreibmotorikANALYSE – 1. Kinematische Analyse
Kinematische Schreibanalyse
Die schwerwiegenden Probleme beim Schreiben lernen sind seit langem bekannt, und auch in der neurologischen Rehabilitation gehören Schreibprobleme zu den häufigsten Beschwerden. Über die genauen Ursachen dieser Schreibstörungen liegen aber kaum gesicherten Erkenntnisse vor.
Die Schriftproben selbst reichen nicht aus um Probleme beim Handschreiben genauer zu untersuchen. Da das Auge schnelleren Schreibbewegungen nicht direkt folgen kann, kann auch die Beobachtung der Schreibewegungen keine gesicherten Erkenntisse liefern. Bis heute stehen für die Diagnostik von Schreibproblemen keine allgemein akzeptierten Beobachtungskriterien zur Verfügung.
Bei der kinematischen Schreibanalyse wird weniger die Schriftform in den Mittelpunkt gestellt, sondern die dynamischen Prozesse, die beim schnelleren Schreiben die Schriftform erzeugen. Auch wenn Handschrift natürlich lesbar sein muss, dominiert bei gekonntem Schreiben die Schreibmotorik. Schreiben Lernen ist vor allem das Lernen von Schreibmotorik. Nur mit einer funktionierenden Schreibmotorik kann automatisiert, schnell und lesbar geschrieben werden. Die Schriftform muss sich am Ende aber den Regeln der Schreibmotorik unterordnen, und so werden beim Beschleunigen der Schrift die Schriftformen entsprechend angepasst und individualisiert.
In der rechten Abbildung sieht man den Testsatz “Die Wellen schlagen hoch” geschrieben von 3 routinierten Personen in ihrer individuellen Handschrift. Rechts neben der Schrift sind die zugehörigen Geschwindigkeitsverläufe vy in Auf- und Abrichtung dargestellt. Obwohl sich die Schriften in Bezug Größe oder Buchstabenformen erheblich unterscheiden, gibt es doch erstaunliche Gemeinsamkeiten in den zugehörigen Bewegungsabläufen.
Die drei Personen benötigen in etwa die gleiche Zeit zum Schreiben, und man findet die für automatisiertes Schreiben typischen gleichmäßigen Auf- und Abbewegungen des Stifts mit einer Frequenz von etwa 5 Hz. Bestimmte Buchstaben sind zusammengeschrieben und andere auseinander geschrieben, je nachdem wie die Flüssigkeit der Bewegung besser aufrecht erhalten werden kann.
Auch das Wissen über die Systematik von motorischem Lernen aus den Fachwissenschaften wie der Neuropsychologie wird weitgehend ignoriert. So wird oftmals vereinfachend angenommen, dass sich durch häufiges Üben alleine die Bewegungen immer weiter optimieren, bis diese sich dann als automatisierte Programme etablieren. Motorisches Lernen läuft aber prinzipiell viel komplexer und in verschiedenen Phasen ab und ist beispielsweise auf erfolgreiche Selbstorganisationsprozesse durch Erfolg und Fehler angewiesen. Dabei spielen vor allem die motorischen Bewegungsaspekt eine zentrale Rolle und weniger die genaue Einhaltung einer vorgegebenen Form.
Entsprechend einseitig wird bei auftretenden Schwierigkeiten im Schreiblernprozess reagiert. Die Diagnose unterstellt dann oft vereinfachend einen Mangel an Übungszeit oder ein Mangel an feinmotorischen Kompetenzen. Über die Kriterien, die über Erfolg oder Misserfolg beim motorischen Lernen entscheiden, ist aber wenig bekannt. Die kinematische Bewegungsanalyse kann genau diese Hintergründe ausleuchten und ermöglicht damit eine differenzierte Beurteilung der individuellen Schreibprobleme, kann aber auch generelle Probleme der angewandten Schreiblernkonzepte aufdecken.
Messung der motorischen Schreibleistung
Motorische Kompetenzen bzw. Schreibbewegungen von Schreibanfängern können mithilfe eines graphischen Tablets und des speziellen Programmsystems CSWin registriert werden (vgl. Marquardt 2012). Die Kinder schreiben dabei mit einem kugelschreiberähnlichen und kabellosen Stift auf ein Blatt, das auf einem Tablet aufliegt. Da die Schreibspur auf dem Papier erscheint, entsteht für die Kinder eine natürliche Schreibsituation. Das Programm ermittelt dann zentrale motorische Aspekte wie die Position der Schreibspitze auf dem Blatt sowie den fortlaufenden Schreibdruck. Durch die gesammelten Daten lassen sich auch kinematische Aspekte wie die Schreibgeschwindigkeit, die Beschleunigung und daraus abgeleitet die Schreibfrequenz und der Automationsgrad berechnen (vgl. Marquardt/Söhl/Kutsch 2002):
- Schreibdruck: Dieser Aspekt gibt Aufschluss über die Druckausübung des Stiftes auf die Schreibunterlage. Der mittlere Schreibdruck bei erfahrenen Schreibern liegt unterhalb von 1 N (entspricht etwa 100 g).
- Automationsgrad: Der Automationsgrad NIV (Number of Inversions in Velocity) zählt die Anzahl der Teilbewegungen je Auf- und Abbewegung beim Schreiben. Bei einer idealen Bewegungsausführung beträgt NIV=1. Bei Schulanfängern wird der Bewegungsablauf immer wieder unterbrochen und NIV liegt bei >2.
- Schreibfrequenz: Die Schreibfrequenz beschreibt, wie oft sich der Stift pro Sekunde nach oben (Aufstrich) und nach unten (Abstrich) bewegt. Bei erfahrenen Schreibern liegt die Schreibfrequenz bei durchschnittlich 4,6 Hz.
Analyse der Schreibleistung bei Kindern
Die folgenden Abbildungen zeigen zwei repräsentative – mit CSWin ausgewertete – Beispiele für schreibmotorische Leistungen von Kindern, die vier Monate nach der Einschulung erhoben wurden. Während des Tests hatten die Kinder die Aufgabe, ihren eigenen Namen und einfache Kringel flott übereinander zu schreiben (vgl. Marquardt/Söhl/Kutsch 2002):
Name: Schüler A schreibt seinen Namen auf den ersten Blick ordentlicher als Schüler C. Aber erst wenn man die kinematischen Auswertungen betrachtet, fallen bei Schüler A das unregelmäßige Tempo (vy) und die geringe Spitzengeschwindigkeit auf. Zum Schreiben eines Buchstabens benötigt er 3,5 s.
Die Analyse der Geschwindigkeit bei Schüler C zeigt hingegen ein regelmäßigeres Bild mit deutlich höheren Spitzengeschwindigkeiten. Seine Schreibbewegungen sind teilweise schon automatisiert. Pro Buchstabe wird nur 1 s benötigt. Der Schreibdruck z ist mit 3 N bei Schüler A ebenfalls sehr hoch, bei Schüler C ist auch der Schreibdruck auf einem niedrigen Niveau.
Kringel: Die Geschwindigkeitswerte beim Kringeln sind im Vergleich zum Schreiben des Namens bei Schüler A zwar etwas höher, weisen aber insgesamt eine niedrige Frequenz von 1,5 Hz auf. Das Handgelenk bewegt sich beim Schreiben pro Sekunde nur etwa eineinhalb Mal nach oben und nach unten. Das rechte Phasendiagramm zeigt darüber hinaus große Unregelmäßigkeiten in der Bewegungskoordination.
Ganz anders Schüler C: Die Kringel werden mit einer Frequenz von 3,3 Hz geschrieben und Geschwindigkeitssignal und Phasendiagramm weisen eine für dieses Alter sehr gute Regelmäßigkeit auf.
Schlussfolgerung: Die Schriftform bei Schüler A ist ansprechend, aber die motorischen Aspekte des Schreibprozesses sind eher gering entwickelt und nicht automatisiert. Schüler C hingegen zeigt – unter Vernachlässigung der ordentlichen Schriftform – eine gut entwickelte und in Ansätzen bereits automatisierte Schreibmotorik. Diese Informationen wären bei reiner Begutachtung der Schriftprobe nicht zu erkennen gewesen.